Mit einem tiefen Verständnis für die Art und Weise, wie Menschen der Welt begegnen, öffnet der Schweizer Heilpädagoge Paul Moor (1899 – 1977) die Tür zu seiner einzigartigen Erziehungsphilosophie. Auch heute noch wird sie gerne als Bezugspunkt für die Gestaltung heilpädagogischer oder pädagogischer Prozesse hergenommen. Sie kann außerdem Reflexionshintergrund für die Ausbildungsangebote angehender pädagogischer Fachkräfte sein: Der Mensch kann tätig, aktiv in die Welt eingreifen und sie verändern, indem er sich Aufgaben stellt und Ziele verfolgt. Er kann aber auch neugierig, staunend und erlebend der Welt gegenüber offen sein und sich von ihr beeindrucken lassen.
Gleichgewicht aus Willen und Gemüt
Erziehung muss beides im Blick haben: die Entwicklung des autonom handelnden Menschen einerseits und die Entwicklung des emotional ansprechbaren, von Lebenssinn erfüllten Menschen andererseits. Paul Moor nennt die damit verbundenen Erziehungsziele „Willensstärke“ und „Gemütstiefe“. „Einen Willen haben heißt, den Aufbruch wagen, sich für etwas überwinden können, sich in den Dienst einer Aufgabe stellen, Verantwortung übernehmen, Pflichtgefühl, Pflichtbewusstsein haben. Soweit wir einen Willen haben, können wir unser Leben selbstständig führen. Und soweit wir ein reifes Gemüt haben, werden wir getragen von dem uns erfüllenden Lebensinhalt“ (Moor 1965, 18-19). Ein reifes Seelenleben ermöglicht uns, die Mühen des Lebens auszuhalten und trotz Enttäuschungen und persönlichem Versagen die eigene Lebensaufgabe mutig anzugehen.
Absichtsvolle und absichtslose Anteile des pädagogischen Handelns
Die Entwicklung von Verstand und Willen des Kindes ist auf geplante Erziehung und methodische Unterrichtung angewiesen im Sinne von Belehren, Zeigen, Grenzen einfordern, Üben. Das Kind lernt Fähigkeiten und Fertigkeiten und erfährt, seine Emotionen zu regulieren. Beides sind Voraussetzungen dafür, dass es überhaupt „Wollen“ kann. Ein Kind muss erst lernen, bei einem emotionalen Inhalt längere Zeit verweilen zu können. Die entsprechende Gestaltung der Rahmenbedingungen helfen ihm dabei. „Pädagogische Zurückhaltung“ ist gefragt, bei der Entwicklung von Gemütstiefe und Fantasie. Gemütstiefe ist nicht machbar, Gemütsentwicklung lässt sich nicht planen. Erziehende sollten daher Partner mit eigener Empfänglichkeit und mit Empfindungstiefe sein: Ihre Aufgabe ist absichtsloses Begleiten und Mitfühlen mit den Heranwachsenden.
„Innerer Halt“ – erstrebenswert, aber nie ganz erreichbar
Paul Moor betont die Wichtigkeit des persönlichen Gleichgewichts, das sich aus der Balance zwischen Willensstärke und Gemütstiefe ergibt. Beides zusammen nennt er den „Inneren Halt“. Sein charakteristisches Merkmal ist, dass sich jeder Mensch stets in Entwicklung auf dieses Ziel hin befindet. Innerer Halt ist die Bezeichnung für etwas nie Erreichbares, aber dennoch Erstrebenswertes. Das Zugeständnis, selbst „Werdende“, „Sich-Entwickelnde“ und oft „Irrende“ zu sein, sind nach Paul Moor entscheidende Merkmale von Menschen mit „Innerem Halt“.
Mit seinem Konzept beschreibt er den Kern der Tätigkeit im Bereich der Erziehung und Bildung, die er als lebenslange Aufgabe des Menschen betrachtet. Erziehung ist für ihn auch immer die Selbsterziehung der Erziehenden.
Erfolgreiches Lernkonzept: Projektarbeit
Doch welchen Anteil übernehmen Ausbildungsstätten wie das Institut für Soziale Berufe (IfSB) konkret? Wie gelingt es ihnen, die Auszubildenden für dieses Zusammenspiel von tätigem Einsatz für eine Sache und emotionaler Erfülltheit zu sensibilisieren? Eine Antwort gibt der Bereich Projektarbeit in der Ausbildung. Sie ist hervorragend geeignet, dass Auszubildende dynamische Prozesse bei sich selbst erkennen und benennen lernen:
- Die Auszubildenden bemerken Aufgaben, die sich im Rahmen eines größeren Projekts ergeben, als solche: Folglich werden Aufgaben nicht nur wahrgenommen, sondern als eigene Verpflichtung auch übernommen.
- Die vorhandenen Möglichkeiten und Fähigkeiten werden in den Dienst der Aufgabe gestellt. Es werden Fertigkeiten ausgebildet und das Können erweitert. Andere Impulse werden zugunsten des gemeinsamen Projektziels zurückgestellt.
- Die Auszubildenden sind herausgefordert bei unterschiedlichsten Grundstimmungen zu verweilen, sodass eine tragfähige Arbeitsatmosphäre entstehen kann.
- Sie müssen bereit sein, ein Wagnis einzugehen. Denn ob der Einsatz für eine Aufgabe und gegebenenfalls die damit einhergehende Selbstüberwindung zu einem emotionalen „Erfülltsein“ beitragen werden, erfährt man nicht im Moment der Anstrengung, sondern erst später.
Rahmen für Erfahrungsräume
Dies sind nur ein paar wenige Aspekte, die sich aus dem Konzept Paul Moors für die Ausbildung ableiten lassen. Die Lehrenden müssen den Rahmen gestalten, damit die genannten Herausforderungen und Lernprozesse für die Lernenden erfahrbar werden können. Ein wichtiger Aspekt für das IfSB ist dabei, dass Projektarbeit zu einem Ziel und einem Abschluss führt, durch den alle Beteiligten etwas Wichtiges erleben. Nämlich, dass die Bewältigung von Aufgaben und das Überwinden von Schwierigkeiten letztendlich mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit einhergeht. Eine gelungene Aufführung, eine ansprechende Ausstellungseröffnung, ein gut besuchter Fachtag oder ein intensives Auslandspraktikum sind Ausbildungsinhalte bei denen sich ein „starker Wille“ mit einem „tiefen Gemüt“ zu einer Einheit verbindet.
Heidi Fischer
(Schulleitung Fachschule für Heilpädagogik)